WIR erleben & SIE erleben

Teilen Sie ihre Erlebnisse mit uns und der Welt

Wir freuen uns auf Ihren Beitrag per E-Mail: verein@coeursdesenfants.org

Im Senegal ist das soziale Hilfssystem die Solidarität der Mitmenschen…

Im Senegal ist das soziale Hilfssystem die Solidarität der Mitmenschen…

Es ist neun Uhr morgens und wir beide machen uns auf den Weg zum Strand. Es ist schon einiges los, an jeder Ecke treffen wir jemanden, der uns grüsst und kurz plaudern möchte. Wir beschliessen, zu Fuss an den Strand zu gehen, um noch etwas Bewegung zu bekommen. Die Temperaturen sind noch nicht all zu hoch, sodass dies gerade sehr angenehm ist. Wir schlängeln uns durch die Strassen und Madiakher erzählt mir von der Schule, die wir passierten. Er berichtet, welche der Kinder, die ich kenne, dort zur Schule gehen. Weiter führt er aus, dass man sich auf die Schulzeiten nicht wirklich verlassen könne. An einem Tag sei sie geöffnet, an anderen geschlossen. Doch nach welchen Gesetzmässigkeiten dies abläuft, sei nicht wirklich bekannt. Dies sei mit ein Grund, weshalb die Schulen hier nicht wirklich zu einer soliden Bildung beitragen. Was mir am meisten auffällt, sind wieder einmal die Kinder, welche durch die Strassen gehen. Zu dieser Zeit sollten Kinder und Jugendliche doch in den Schulen sein oder, die Kinder im Vorschulalter, Zuhause bei den Eltern. Diese Anblicke irritieren mich immer wieder aufs Neue. Von den verschiedensten Talibé Kindern (Strassenkindern) werden wir nach Geld gefragt.

Und wieder einmal hört Madiakher seinen Namen durch die Menge gerufen. Wir drehen uns um und eine jungen Dame, die ihn erkannt hatte, steht vor uns und möchte etwas Geld von ihm. Er sei ja jetzt mit einer «Tubab» zusammen, einer Weissen. So sei er jetzt total reich und könne sich alles leisten. Eine Erklärung seinerseits, dass aufgrund der weissen Hautfarbe von seiner Partnerin er noch lange nicht reich sei, stiess grundsätzlich auf Unverständnis. Die weitere Erklärung, dass auch seine weisse Partnerin arbeiten muss, um an Geld zu kommen und dafür sich eine freie Stelle ergeben müsste, konnte nur zu Teilen verstanden werden. Weisse sind nunmal einfach reich.

Um dem Rummel etwas auszuweichen, biegen wir in eine Nebenstrasse ein, so kommen wir weg von der Hauptstrasse. Es ist seine langjährige Taktik von Madiakher, durch die Nebenstrassen zu ziehen, um gewissen Gesprächen auszuweichen, schneller voranzukommen und vor allem seine Wege zu gehen ohne, dass die anderen seine Intentionen und Ziele mitbekommen. So verhindert er, dass ihm Steine in den Weg gelegt werden. Immer wieder scheint es, als würde er gedankenverloren durch die Strassen gehen. Doch bei genauerem Beobachten ist zu erkennen, dass er genau weiss wo er wann seinen Fuss abstellt, wer um ihn herum ist und wer ihn gerade grüsst oder nach ihm Ausschau hält. Wir halten an, da uns zwei Frauen ansprechen, die mit einem kleinen Mädchen draussen vor ihrem Haus sitzen und Lebensmittel verkaufen. Es sind Bekannte von Madiakher. Bei jeder Begegnung bitten sie ihn darum, im September am Geburtstag des kleinen Mädchens zu trommeln. Die Kleine, noch keine zwei Jahre alt, sitzt auf dem Arm von Madiakher und beobachtet mich mit riesigen Augen. Die Mutter meint, dass unsere zukünftigen Kinder auch so weiss wie ihr Kleines werden würden. Wir stimmen in ein fröhliches Lachen ein und verabschieden uns wieder. Doch zuvor versichert Madiakher der Mutter, dass er den Geburtstag und das Trommeln nicht vergessen würde.

Am Strand angekommen gehen wir vom Fischerstrand bis zum Badestrand. Heute sind die Wellen hoch und reichen teilweise bis zu den Strandhütten hin. Das ist echt eindrücklich für mich. In den Momenten, wo die Wellen zurück ins Meer fliessen, springen wir von Sandbank zu Sandbank. Es ist ein verrücktes Erlebnis und es macht tüchtig Spass. Einen Moment lang fühle ich mich wieder wie ein kleines Kind. Herrlich! So springen wir von Sandbank zu Sandbank und sehen dabei einer Gruppe Kindern zu, welche in den Rinnen des Sandes mit dem Wasser spielen. Was für ein grosser Spielplatz das doch ist. Die Kinder scheinen mir noch zu klein zu sein für die Schule und doch irritiert es mich, dass keine erwachsene Person in Sicht ist. Doch bei genauerem Hinschauen sehe ich all die Hütten am Strand entlang. Höchstwahrscheinlich sind sie das Zuhause dieser Kinder.

Am Badestrand sind ein paar Erwachsene zu sehen. Der eine treibt Sport der andere spaziert gemütlich. Schnell füllt sich der Strand mit Menschen. Ziegen- und Schafherden kommen vorbei, um von den Hirten gewaschen zu werden. Dafür wird zu zweit ein Schaf nach dem anderen ins Wasser geführt und gewaschen während die anderen am Strand warteten. Was für ein Spektakel! Und dann immer wieder die Wellen, die das Waschen der Tiere nochmals erschweren. Es ist ein richtiges Happening! Der Strand füllt sich langsam auch mit einer grossen Anzahl Talibé Kindern. Sie treffen sich zum Fussballspiel. Es sind weitaus mehr, als in einer Fussballmannschaft vertreten. Doch sie alle treffen sich, um nun für einige Stunden am Strand Fussball zu spielen. Und immer wieder kommen mehr dazu. Es scheint ein Treffpunkt der Talibé Kinder zu sein, welche nicht zu den Koranschulen zurück gehen wollen, da dort möglicherweise die Behandlung nicht Kinds- und Menschengerecht ist. Ich vermute, dass sie um ca. 10 Uhr die Bäuche etwas gefüllt hatten und sich nun mit dem Fussballspielen die Zeit vertreiben, bevor sie wieder auf die Suche nach einem Mittagessen gehen.

Immer wieder geht es mir durch den Kopf, dass unzählige Kinder hier einfach nicht in die Schule gehen und zusätzlich schon in jungen Jahren auf sich selbst gestellt sind. Und all dies aufgrund der herrschenden Armut. Ich, Muriel, komme aus der Schweiz und habe den Reichtum aufgrund meines Geburtsorts geschenkt bekommen. In der Schweiz sind solche Bilder undenkbar. Auch wenn ich aus einer Familie komme, welche nicht reich ist, würde ich sagen, dass ich sehr reich aufgewachsen bin. Ich habe eine Familie, die immer da ist, ich habe eine gute Bildung genossen und wir hatten immer etwas zu Essen, Kleider sowie alles andere, was das Herz begehrt. Auch fuhren wir immer wieder mal in den Urlaub. Und auch Menschen, die an der Armutsgrenze leben, haben immer noch einen Reichtum, wovon man hier im Senegal nur träumen kann. In der Schweiz hat jeder und jede die Möglichkeit auf staatliche und soziale Unterstützung und muss nicht auf der Strasse leben. Die öffentlichen Schulen sind kostenfrei und jedes Kind hat Zugang zu Bildung. Im Senegal sieht das völlig anders aus. Durch meine Arbeit als Sozialpädagogin habe ich mich viel mit der Armut auseinandergesetzt. Auch in der Schweiz gibt es die Armut. Doch es ist eine andere Art von Armut. Und vor allem gibt es in der Schweiz ein staatliches Sozialsystem, welches sicherstellt, dass die Ärmsten trotz allem ein Existenzminimum erhalten, um leben zu können. Hier im Senegal besteht das soziale Hilfssystem aus der Solidarität der Mitmenschen. Kurz gesagt: War unser Abendessen ausreichend und wir haben Reste übrig, so geben wir es, ohne darüber nachzudenken den Talibé Kindern oder den Koranschulen.

Ich bin hier in einem komplett anderen Leben angekommen. Jeder Spaziergang, jedes von A nach B gehen lässt uns Bilder und Realitäten erleben, die zum Grübeln anregen. Aber vor allem nähren sie meinen Tatendrang und den Wunsch, mit «Coeurs des Enfants – Ndimbal ak yërmandé» etwas bewirken zu können. Dieses «nur» Zuschauen macht mich manchmal fast irre. Immer wieder geht mir durch den Kopf, dass es doch einfach unmöglich ist, wie ungerecht die Ressourcen auf unserer Erde verteilt sind. Warum muss es ein ganz arm und ganz reich geben, wenn es doch in einer Balance gehalten werden könnte? Wir für unseren Teil möchten dem entgegenwirken. Es ist offensichtlich, dass wir mit unseren Ideen nicht den gesamten Senegal in die Balance bringen können, geschweige denn die Welt. Das wäre etwas utopisch. Doch mit dem Haus «Coeurs des Enfants – Ndimbal ak yërmandé» können wir etwas Grosses im Kleinen bewirken. Und das ist doch schon mal was, wofür sich der Einsatz lohnt. So werden wir weiterhin alles geben, um zeitnah an genügend Gelder zu kommen, damit wir das Haus aufbauen können. Und wenn es auch dir am Herzen liegt – wir freuen uns über jegliche Unterstützung!

Seid lieb gegrüsst aus dem Senegal.

In Liebe,

Muriel & Madiakher

©Verein "Nio boku gis gis - on vois dans la même direction"