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Es war sieben Uhr morgens, als ein unglaublich starker Wind einsetzte…

Es war sieben Uhr morgens, als ein unglaublich starker Wind einsetzte…

Heute war ein weiterer Regentag hier in Mbour. Es ist Ende Juni und es hat das zweite Mal in dieser Saison geregnet. Wie schon in den letzten Nächten hatten wir das Nachtlager nach draussen auf die Dachterrasse verlegt. Da gibt es einen angenehmen Wind, es ist mehrheitlich überdacht. In diesen schwülen Nächten, die uns seit dem ersten Regentag heimsuchen, ist es jeweils sehr angenehm, draussen zu übernachten. Die Nacht war klar und wir konnten den, schon fast vollen Mond sehen. Um etwa sieben Uhr morgens setzte plötzlich ein unglaublich starker Wind ein. Die Wolken waren pechschwarz. Alles was nicht niet- und nagelfest war, befand sich innert kürzester Zeit in den Lüften und flog davon. Wir beschlossen, unser Nachtlager zusammen zu räumen und nach unten in unser Zimmer zu gehen. Schon spürte ich die ersten Tropfen ich auf meiner Haut. Es war eine völlig neue Stimmung in den Strassen zu beobachten. Der Himmel war plötzlich ganz nah und schwarz. Der Wind, welcher den noch trockenen Sand und alles andere umher wirbelte und der Gedanke daran, dass möglicherweise ein grosser Teil der Behausungen hier nicht wasserdicht sind, beschäftigte mich. Viele der Dächer haben Löcher und es ist kein Geld da, um diese Löcher zu reparieren oder gar das ganze Dach auszuwechseln. Ich komme mir in dem Moment sehr privilegiert vor in diesem grossen Haus.  

Madiakher und ich sind hier in einem Haus, welches sicher und trocken ist. Doch eben auch sehr teuer, zu teuer für uns auf Dauer. Im Haus von Madiakhers Familie gibt es keinen Platz. Es ist ein kleines Zuhause und ein grosser Teil der Familie lebt dort. Doch wann immer möglich sind wir bei ihnen. In Gedanken bin ich an diesem Morgen ganz bei ihnen. Ich fragte mich, ob ihr Dach wohl dicht ist und sie diesen Regentag sorgenlos erleben können. Madiakher schien mir den ganzen Morgen abwesend und ich vermute er war in Gedanken ebenso bei seiner Familie. Plötzlich kommt mir in den Sinn, dass er vor ein paar Tagen in einem Nebensatz erwähnt hatte, dass er das ganze Dach reparieren müsste. Krass, in der Schweiz habe ich mir solche Gedanken nie gemacht. Doch hier im Senegal hat mein Leben gänzlich neue Seiten erhalten. Ein weiteres Beispiel diesbezüglich ist, dass wir Zwei durch unsere unterschiedlichen Hautfarben weitere Herausforderungen haben, welche zwei gleichfarbige Menschen nicht hätten. Da ich weiss bin, gehen alle davon aus, dass ich reich bin und sie von mir profitieren können. Und da Madiakher und ich zusammen durchs Leben gehen, sei auch er nun sehr reich, so die Vorstellung der Menschen hier. Doch die Realität sieht ziemlich anders aus. Wir beide sind auf Arbeitssuche und leben ein sehr bescheidenes Leben. Wir beide geben alles, um an eine Arbeitsstelle zu kommen. Doch durch Corona ist seine Arbeitssituation stark verändert und erschwert worden. Und für mich als Auslandschweizerin im Senegal ist die Suche nach Arbeit nochmals eine ganz andere Geschichte. Nichtsdestotrotz geben wir weiterhin alles, um «Coeurs des Enfants – Ndimbal ak yërmandé» weiter aufzubauen und Arbeit zu finden. 

Wir versuchen einen bewussten Lebensstil zu leben und die herrschenden Vorurteile nicht zu bedienen. Für Madiakher ist es unglaublich wichtig auf eigenen Beinen zu stehen und nicht als Mann gesehen zu werden, welcher von einer weissen Frau finanziert wird. Hierzu gibt es viele Beispiele hier im Senegal. Senegalesen, die sich eine weisse Frau nehmen, um sich und ihre ganze Familie zu finanzieren. Leider kommt es öfters vor als man denk, dass die Menschen hier nur das Geld sehen und das alles um sich herum so formen, wie es für sie am angenehmsten und profitabelsten ist. Eine traurige Realität. Madiakher wird ganz betrübt, wenn er mit diesen Realitäten konfrontiert wird. Doch ihm ist auch bewusst, dass es schwierig ist, die Menschen um ihn herum aufzuklären. Denn diese Realität und somit auch die daraus entstandenen Muster sind hier tief verankert. So versuchen wir diese Realitäten einfach anzunehmen, wie sie sind aber dafür ein gegenteiliges und positives Beispiel vorzuleben. All dies geht mir in diesem Moment durch den Kopf. Weiter denke ich mir, das Dach zu reparieren, wird wohl nicht all zu teuer sein (in Schweizer Verhältnissen gedacht). Ich könnte sicherlich das Geld für Madiakhers Familie auftreiben. Das Helfersyndrom von mir kam durch, denn es würde mir grundsätzlich keinen Zacken aus der Krone brechen. Doch im selben Augenblick geht mir durch den Kopf, dass genau dies eine Verhaltensweise ist, welche wir nicht unterstützen wollen. Hier eine kleine Summe für das Dach, da eine kleine Summe für die Beerdigung oder Geburt und nochmals eine kleine Summe für das kommende traditionelle Fest «Tabaski». Die Gelegenheiten, in denen das Helfersyndrom in Form von finanzieller Unterstützung aufkommt, gibt es tagtäglich. Und genau dies widerspricht uns. Denn bis anhin sind wir beide auch ohne das Geld des anderen durchs Leben gekommen. 

Zwischenzeitlich sind wir mit unserem Nachtlager im Zimmer angekommen und der Regen hat nun richtig stark eingesetzt. Es donnerte und blitzte. Ein richtiges Gewitter war aufgezogen. Wir legten uns noch etwas hin, denn mit dem Regen konnten wir unseren Plänen nicht mehr nachgehen. Gegen neun Uhr wollte ich wie gewohnt jeden Samstag morgen mit meinen Freunden per Zoom telefonieren. Das Internet war jedoch durch den Wind und Regen unterbrochen worden, so dass wir den ganzen Tag kein Internet hatten. Das bedeutete also kein Zoom-Call. Die Strassen waren leer und jeder der nicht nach draussen musste, blieb Zuhause. Die ganzen Sandstrassen waren nass. Einige Strassenteile waren abgesperrt, da das Wasser etwas zerstört hatte, was zuerst repariert werden musste. Sobald der Regen etwas nachgelassen hatte, ging Madiakher in sein Familienhaus, um zu schauen, wie der Stand der Dinge ist und um beim Putzen zu helfen. 

Es war ein fauler Tag gewesen und erst gegen Abend gingen die Menschen auf die Strassen. Abends aber waren gefühlt alle draussen. Die Kinder waren auf den Strassen und spielten Fussball. Die Strassen waren so voll, dass Autos teilweise nicht mehr wirklich durchkamen und stark hupen mussten, um durchzukommen. Die Temperaturen hatten etwas abgenommen, doch nun war es vor allem schwül. Die Luftfeuchtigkeit war gestiegen, so dass man trotz der herrschenden Kühle am Schwitzen war. Ein ungewohntes Gefühl für mich. Scheinbar sei dies noch ein harmloser Regenschauer gewesen, sagte man mir. Bei wirklich starken Regenfällen würden sich die Strassen in kleine Bäche verwandeln und der Abfall von den Strassen würde an den Füssen kleben. Keine angenehmen Momente, um rauszugehen.

Trotz den nassen Strassen gingen wir heute ein Haus anschauen, in dem wir zukünftig wohnen könnten, denn wir möchten weg von dem Haus in dem wir aktuell leben. Es ist uns viel zu teuer und dazu kommt, dass wir gerne unsere vier eigenen Wände hätten. Wir möchten unsere eigenen Dinge kochen, sowie unseren Lebensrhythmus selbst gestalten und leben können. Das Haus befindet sich sehr nahe am Meer in einer Nachbarsstadt von Mbour. Vom Balkon aus können wir direkt aufs Meer blicken und in wenigen Gehminuten sind wir am Strand. Herrlich! Bis jetzt sieht es gut aus, dass wir für ein halbes Jahr dort wohnen könnten. Doch auch bei der Suche nach einer Unterkunft zum Mieten spielt die Tatsache mit, dass ich weiss bin. Sobald herauskommt, dass eine Weisse miteinziehen würde, schiessen die Preise und die Konditionen schlagartig in die Höhe. Bei diesen Vermietern scheinen wir jedoch Glück zu haben. Die Frau selbst lebt in Europa und ist mit einem weissen Mann verheiratet. Sie interessierte sich nicht für meine Hautfarbe, so dass wir sehr gute Konditionen erhielten. Und sofern sich nichts mehr verändert, können wir auf Ende des Monats umziehen. Plötzlich ertappte ich mich wieder dabei, wie ich mir überlegte, welche Herausforderungen uns in der Schweiz begegnen würden mit unseren beiden Hautfarben. Immer wieder gehen mir solche Gedanken durch den Kopf. Menschen aus afrikanischen Ländern, welche eine schwarze Hautfarbe haben, erfahren nicht immer eine einfache Realität in der Schweiz. Auch von hier aus werden wir von der Schweiz aus immer wieder damit konfrontiert, dass in Afrika die Menschen kriminell sind und Drogen verkaufen. Doch wären wir in der Schweiz, wie wäre es wohl? Würden wir auch regelmässig angehalten werden, damit Madiakher kontrolliert werden und sich ausweisen könnte? Würde mir vorgehalten werden, dass ich mit einem «Afrikaner» nur Schwierigkeiten haben würde? Ich vermute, dass dies alles möglich sein könnte und wir in der Schweiz genauso mit Vorurteilen und unschönen vorherrschenden Realitäten konfrontiert sein würden, wie wir es auch hier sind.  

Mittlerweile hatten wir die Hausbesichtigung beendet, alles Wichtige besprochen und befanden uns auf dem Weg zur Hauptstrasse, um uns ein Taxi zurück nach Mbour zu ergattern. Ich frage mich, wie das Leben in dieser kleineren Stadt wohl werden würde. Hier kamen uns in den Strassen verschiedene weisse Frauen entgegen. Sie waren alle rot, dunkelbraun gebrannt und im Seniorenalter. Hier war ich als Weisse also nicht alleine, dachte ich mir. Wobei ich mir auch bewusst bin, dass ein solcher Lebensstil nicht mein Ziel ist. Den ganzen Tag an der Sonne liegen um braun und rot zu werden, das kann ich nicht. Dafür bin ich viel zu nervös. Nun ja, aber das muss ich auch nicht. Mir fällt auf, dass wir hier viel ländlicher sind und es weniger Einkaufsmöglichkeiten gibt für Lebensmittel. Doch es scheint alles zu haben, was man so braucht. Also genau unser nach unseren Vorstellungen. Wir erhielten einen Anruf. Ein Bruder von Madiakher sei heute Papa geworden. Das Kind sei soeben Zuhause geboren und die frisch gebackene Mutter sei nun mit dem Kind im Krankenhaus zur Untersuchung. Was für schöne Neuigkeiten. Vielleicht können wir die Tage das neue Kind begrüssen gehen. Wir werden sehen.

Die letzten Strassen gingen wir zu Fuss zurück zu unserem Haus in Mbour. Uns kamen alle zwei Meter ein Fussball entgegen oder dann begrüsste uns jemand, den wir kennen. Zuhause angekommen sass ich draussen vor dem Haus. Madiakher und Moussa sind noch weitergezogen, als ein Freund von uns mit einem Kaffee Touba in der Hand auf mich zu kam. Zusammen tranken wir den Kaffee, alberten herum und liessen den Abend gemütlich ausklingen. Was ein erlebnisreicher Tag es heute doch noch war, obwohl wir durch den Regen den ganzen Tag herum lagen und erst gegen Abend aktiv wurden.

Seid lieb gegrüsst aus dem etwas regennassen Senegal,

Madiakher & Muriel

©Verein "Nio boku gis gis - on vois dans la même direction"