WIR erleben & SIE erleben

Teilen Sie ihre Erlebnisse mit uns und der Welt

Wir freuen uns auf Ihren Beitrag per E-Mail: verein@coeursdesenfants.org

…es würde viel Fleisch geben, sagte man mir schon im Voraus

…es würde viel Fleisch geben, sagte man mir schon im Voraus

Schon Monate davor wurde mir von dem grossen Fest „Tabaski“, auch bekannt als „Aid ul-Adha“, erzählt. Es ist das höchste islamische Fest im Jahr. Doch das war nicht die erste Information, die mir zugetragen wurde. Diejenigen, die mich kennen, erläuterten mir immer wieder, dass es viel Fleisch geben würde. Denn sie wussten, dass ich Vegetarierin bin. Hier ist das für viele Menschen unbegreiflich, doch wenn ich meine Gründe diesbezüglich schildere, staunen die meisten. Denn die Produktion von Fleisch sowie die Tierhaltung in Europa oder in anderen wohlhabenden Ländern kennen sie so nicht. Hier wird mit den Tieren zusammengelebt. Man ist voneinander abhängig. Und wird ein Tier geschlachtet, so wird zuvor gebetet, das Tier wird gewaschen und es wird schlussendlich alles vom Tier gebraucht und verarbeitet. Wegen dieser anderen Einstellung bezüglich des Fleischverzehrs fragen sie mich immer wieder, ob ich nicht doch wieder Fleisch essen würde? Und sie haben recht. Unter diesen Umständen kann ich mir tatsächlich vorstellen, wieder Fleisch zu essen. Doch, ob ich wohl Fleisch überhaupt noch mögen würde? Denn mittlerweile bin ich seit fast zwölf Jahren Vegetarierin.

 

Für das Tabaski würden die Leute Schafe opfern. Jeder Mann würde für seine Ehefrau ein Schaf kaufen, welches für Tabaski geopfert werden würde. Doch stellt euch vor, in der muslimischen Kultur können Männer bis zu vier Frauen heiraten, sofern sie in der Lage sind für alle zu sorgen. So kommt es vor, dass in einer Familie mehrere Schafe geopfert werden. Das Opferfest basiert darauf, dem Propheten Ibrahim zu gedenken. Aliou und Madiakher erzählten mir, dass Ibrahim auf eine göttliche Probe gestellt wurde. Er sollte seinen eigenen Sohn opfern und somit Gott sein Vertrauen beweisen. Ibrahim war sehr traurig, seinen Sohn zu opfern. Doch um Gott sein Vertrauen zu beweisen, schritt er schlussendlich zu dieser schwierigen Tat. Als Gott Ibrahims Bereitschaft sah, tauschte er im letzten Moment den Sohn gegen einen Widder aus. So opferte Ibrahim schlussendlich einen Widder und konnte seinen Sohn behalten.

 

Ich war sehr gespannt auf dieses Fest. Doch ich hatte auch etwas Respekt. Würde ich es aushalten, beim ganzen Fest dabei zu sein? Würde ich es aushalten, bei einer Schlachtung dabei zu sein? Oder beim Häuten der Tiere? Ich wusste es nicht, also konnte ich nichts weiter tun, als es einfach auf mich zukommen zu lassen. Denn ich war auch sehr neugierig. Schon Wochen vorher starteten all die Vorbereitungen. Überall, wo es der Platz auf den Strassen zuliess, wurden provisorische Ställe aufgebaut. Man hatte den Eindruck, dass entlang der grossen Strasse von Mbour alle zehn Meter ein provisorischer Stall aufgebaut wurde. Also eigentlich war es einfach ein Zelt und an den Pflöcken, welche in den Boden geschlagen wurden, waren die Schafe angemacht. Es waren alles Böcke, welche Hörner wie ein Widder hatten. Nur Schafe, die Ähnlichkeiten zum Widder aufwiesen, wurden für das Tabaskifest gekauft. Junge Buben achteten auf die Schafe und halfen beim Verkaufen. Jedes Mal, wenn ich eines der Zelte passierte, musste ich daran denken, dass in wenigen Wochen all diese Schafe geopfert würden. Es war ein eigenartiges Gefühl, das sich noch steigern würde. Doch zu diesem Zeitpunkt war ich noch relativ ahnungslos.

 

Auch Madiakher schaute, dass er ein gutes Schaf bekam, welches preislich auch bezahlbar war. Je näher das Fest kam, desto teurer wurden auch die Schafe. Wobei die Qualität der Tiere gleichzeitig abnahm. Denn kurz vor Tabaski würden, von der Wüste her, die Nomaden mit ihren Schafen bis in den Senegal kommen. Diese Tiere hätten keine gute Qualität und seien sehr teuer.

 

In den letzten Wochen vor Tabaski war der Markt überfüllt wie zu keinem anderen Zeitpunkt zuvor. Man kam kaum noch durch die Strassen und war froh, wenn man das Marktquartier nach kurzer Zeit wieder verlassen konnte. Die Schneider arbeiteten in Akkord, damit alle Kinder und Erwachsenen mit neuen feierlichen Kleidern ausgestattet werden konnten. Der Stoffmarkt war ziemlich ausgebrannt. Noch Tage nach dem Fest war der Markt leer. Einerseits weil die Menschen Zuhause blieben, um sich zu erholen und andererseits weil die meisten Produkte so oder so ausverkauft waren. Kartoffeln beispielsweise konnte man erst nach fünf Tagen wieder kaufen. Doch wie war der Tag des Tabaski selbst? Ich kann euch sagen, es war ein Fest, wie ich es noch nie zuvor erlebt habe! Ich werde es euch in den nächsten Zeilen schildern.

 

An diesem Morgen, es war der 21.07.2021, wurde ich um etwa 07:00 Uhr von blökenden Schafen geweckt. Ich stand auf und schaute von unserem Balkon runter. Da sah ich wie unzählige Schafe zum Meer geführt wurden, um sie zu waschen. Wir machten uns schnell bereit, denn wir wollten in die Stadt zu Madiakhers Familie. Doch zuvor würden wir noch zu einem Freund von uns fahren. Ich würde dort etwas Zeit verbringen, während Madiakher noch etwas für den Verein erledigte. So düsten wir mit unserem Motorrad in die Stadt. Es war das erste Mal, dass ich hinten drauf sass, denn da wir beide noch keine Helme besitzen, würden wir direkt von der Polizei angehalten werden. Kontakte mit der Polizei versucht man hier generell zu vermeiden. Denn diese haben ihre eigenen Regeln und Richtlinien. Hinzu kommt, dass ich als weisse Person die Polizei sowiso eher meiden sollte. Denn als Weisse ist man relativ schnell im Nachteil und bezahlt deshalb schnell ein saftiges Bussgeld. Ganz egal ob es der Wahrheit entspricht oder nicht, Weisse haben generell einfach Geld.

An diesem speziellen Tag vermutet man jedoch wenig bis keine Polizei. So wollten wir den direkten Weg nach Mbour einschlagen, denn auch wir vermuteten, dass an der gewohnten Stelle heute keine Polizei stehen würde. Doch als wir von weitem die Polizei doch sichteten, schlugen wir schleunigst einen Umweg ein. Dieser lässt einen Senegal und dessen Leben so richtig erfahren. Die Strassen waren natürlich sandig. Doch an gewissen Stellen war der Sand so tief, dass Madiakher das Motorrad aufdrehte und mit Vollgas über diese Stellen bretterte. Manchmal kam das Motorrad leicht ins Schleudern. Doch wären wir langsam über diese Stellen gefahren, wären wir stecken geblieben. Madiakher kennt die Verhältnisse hier wie seine Westentasche und weiss dementsprechend genau, wie er sich zu verhalten hat. Doch für mich war das eine neue Erfahrung und sehr abenteuerlich. Mir wäre es manchmal lieb gewesen, etwas langsamer zu fahren. Denn unter meinem Hintern wurde der Motor immer wärmer. Wir wollten nicht stecken bleiben und etwas Abenteuerlust ist bei uns auch immer dabei, so gab Madiakher Gas. Wir fuhren durch abgelegene Dörfer, vorbei an Seen und riesigen Affenbrotbäumen. Die Bäume waren unglaublich imposant und mystisch. Einfach unbeschreiblich eindrücklich. Plötzlich kam uns eine Herde Kühe entgegen. Ihre Hörner waren gross und eindrücklich. Wir konnten nicht bremsen, denn sonst wären wir ja im Sand stecken geblieben. Doch durch Madiakhers Geschick und Erfahrung konnten wir die Herde problemlos passieren. Die Fahrt ging weiter durch die kleinen Dörfer, vorbei an den Abfallhalden und Elektrofriedhöfen, welche mit Röhrenfernsehern überfüllt waren. Die Fernseher waren regelrecht ausgeweidet. Die Teile, welche noch übrig waren, konnten wohl nicht weiterverwendet werden, weswegen diese achtlos entsorgt wurden.

Die Leute in den Dörfern waren bereits auf den Beinen und ab und zu hörte ich ein lautes „Toubab“ („Weisse“) rufen. Schon hier fielen mir die verschieden grossen Löcher auf, welche am Strassenrand gegraben wurden. Als wir schlussendlich in die Stadt Mbour hineinfuhren, konnte ich noch viele weitere dieser Löcher sehen. Mir fiel auf, dass bei jedem Haus mindestens ein grosses und ein kleines Loch gegraben war. Wofür diese Löcher wohl waren? Sicherlich würden sie etwas mit dem Fest zu tun haben. Doch wofür die Löcher eingesetzt wurden, sah ich dann zu einem späteren Zeitpunkt. Alle Menschen waren wunderschön gekleidet. Die Menschen waren auf dem Weg zur Moschee. Dies war der Startschuss für das Fest – ein Pilgergang zur Moschee, um zu beten.

 

Kaum waren wir bei unserem Freund angekommen, machte sich dieser auch schon auf den Weg zur Moschee. Madiakher und ich blieben zurück. Während er acht Schafe einer benachbarten Grossfamilie holte, blieb Ich mit den Frauen zurück, welche schon mitten in den Vorbereitungen für das Mittagessen waren. Sie wollten mit allen Vorbereitungen fertig sein, bevor die Schafe geschlachtet wurden. Denn so konnten sie sich anschliessend ungestört auf die Verarbeitung des Fleisches konzentrieren. Als die Gebetszeit beendet war, strömten die Männer zurück nach Hause. Dort wurde die Festtagskleidung durch Arbeitskleidung ausgetauscht. Denn nun folgte die Opferung der Schafe.

 

!Triggerwarnung! Wenn du Mühe mit solchen Bildern hast, dann kannst du jetzt zum nächsten Absatz springen. Dort erfährst du, wie wir zusammen mit Madiakhers Familie Tabaski feierten.

 

Auch unser Freund opferte zwei Schafe. Ich sass draussen vor dem Haus und beobachtete die Geschehnisse. Soweit mein Blick reichte, wurden die letzten Vorbereitungen für die Opferung getroffen. Ein Haus nach dem anderen begann nun die Schafe zu opfern. Ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich diesen Anblick ertragen würde. Und plötzlich sah ich das erste Schaf bei einem Nachbarn daliegen. Ein krasser Anblick und doch sah dieses Schaf eigentlich ganz friedlich aus. Unser Freund war mittlerweile auch schon bereit. Die Messer waren geschliffen und vor dem Haus wurden zwei kleine Löcher gegraben. Als er das erste Schaf geholt hatte, spürte ich, wie die Stimmung sich schlagartig veränderte. Es erschien mir fast sinnlich, denn jede einzelne Person, die bei der Opferung mithalf, schien mit dem Herzen und den Gendanken voll und ganz bei dem Schaf zu sein. Unser Freund wusch das Schaf ein letztes Mal, packte es an den Beinen und positionierte es so, dass der Hals neben dem einen kleinen Loch war. Alles wurde ganz still. Alles wurde ganz still. Der Kehlschnitt erfolgte rasch und mit gekonnten Handgriffen.

 

Das erste Schaf hatte er speziell für diesen Tag gekauft. Doch das zweite Schaf, welches er für Tabaski opferte, hatte er selbst aufgezogen. Er war dabei, als es geboren wurde, zog das Lämmlein auf und begleitete es nun auch würdevoll bis zu seinem Lebensende.Ich sass noch immer auf der Bank und beobachtete, wie aller Konzentration voll und ganz auf dem Schaf war. Alle waren dabei, von den Erwachsenen bis zu den Kindern. Alle halfen mit. Auch ich sass still da und war ganz bei dem Schaf. Unglaublich, wie intensiv und besinnlich diese wenigen Minuten waren. Ich vergass alles um uns herum. In mir wiederholte ich für alle Schafe immer wieder „Ruhe in Frieden“ und wünschte ihnen eine gute Reise. Und schon war der Moment vorbei. Das Schaf wurde auf eine Plastikplane gelegt, der zuvor feinsäuberlich ausgelegt worden war. Das Blut wurde in dem kleinen Loch gesammelt. Und so ging es auch mit der Opferung des zweiten Schafes. Wie aus einer Trance erwachte ich wieder aus dem Moment. Ich erkannte, dass ich die Opferung der anderen Schafe um mich herum nicht nur gespürt hatte. Es entsprach einer Realität, die ich nun vollumfänglich wahrnahm.

 

Ich habe mir das Opfern eines Tieres immer als etwas Schlimmes vorgestellt. Diese Erfahrung hat mir aber geholfen, einen anderen Bezug zur Gewinnung von Fleisch zu erhalten. Wenn ein Tier mit so viel Respekt und Würde behandelt wird, so wird das Fleisch und der Verzehr dessen auch ganz anders geschätzt. Hier im Senegal wird nicht um jeden Preis Fleisch produziert und angeboten, so wie wir das aus der Massenproduktion kennen. Man schlachtet nur so viel, wie gebraucht wird. Jedes Tier hat seine Aufgabe, seinen Wert, seine Funktion aber auch seine Würde. Ohne die Tiere könnte der Mensch hier nicht überleben und umgekehrt genauso. So lebt man hier in Einklang mit den Tieren und mit der Natur.

 

Mittlerweile war Madiakher zurückgekehrt und wir fuhren weiter zu seiner Familie. Es war etwa 10:00 Uhr morgens. Ich verweilte den ganzen Tag bei seiner Familie, während Madiakher weiterzog, um der Grossfamilie nebenan, zusammn mit einem Kollegen, die acht Schafen auszunehmen. Er half jedes Jahr dabei, die Schafe zu zerteilen. Es dauerte bis in den Nachmittag hinein, bis Madiakher zurückkam. Er würde den Kraftakt noch einige Tage danach in den Muskeln zu spüren bekommen.

 

Es verging keine Minute und ich befand mich inmitten der Frauen und Kinder. Schon bald hatte ich einen Eimer Zwiebeln in der Hand. So rüsteten wir zusammen Kartoffeln und Zwiebeln in Rekordmengen. Die Männer (Madiakhers Bruder und die Jungs) zerteilten zusammen das Schaf und bereiteten es zum Kochen vor. Verrückt! Ich konnte alles hautnah miterleben. Das Schaf wurde bis auf den letzten Zentimeter auseinandergenommen und verwertet. Zum Schluss blieb nur noch der Schädel mit den Hörnern, die Hufe sowie ein einziges Organ, ich vermute es war die Galle, übrig. In riesigen Töpfen über grossen Feuern wurden das Fleisch und die Beilagen zubereitet. Plötzlich sprangen die Kinder an uns vorbei. Sie jagten einen Jungen, begleitet von lautem Geschrei und Lachen. Ich musste zweimal hinsehen, um mich zu vergewissern. Aber ich hatte richtig gesehen. Der vorderste Junge hielt die Geschlechtsteile des Schafes in der Hand und war stolz darauf, dass er sie sich ergattert hatte. Etwas später konnte ich die Jungs in einer Ecke etwas abseits beobachten, wie sie ein Feuer entfachten. Sie hatten wohl etwas Kochsalz von der Mama stibizt und brieten nun die Delikatesse, um sie sich später genüsslich zu Gemüte zu führen. Madiakher erklärte mir später, er hätte u.a. als Bezahlung von der Grossfamilie von dem Schafsfleisch erhalten. Dabei konnte er acht Hoden von den Schafen ergattern, was er äusserst genial fand. Die seien besonders lecker, meinte er. Es scheint so eine Art unausgesprochene Tradition unter den Jungs / Männern zu sein. So sassen wir alle zusammen im Schatten des Baumes, umgeben von den verschiedensten Geschmäckern und feierten Tabaski.

 

Als wir an diesem Abend nach Hause kamen, waren wir beide ziemlich erledigt. Madiakher war geschaffen durch die anstrengende Arbeit des Zerteilens der Schafe und gleichzeitig aber glücklich über die leckeren Mahlzeiten des Festes. Ich war erschlagen von all den intensiven, neuen und spannenden Erlebnissen.

 

Mit vielen neuen Erinnerungen und einem grossen Sack voller Fleisch im Kühlschrank starteten wir in den neuen Tag. Noch jetzt, Wochen später, kocht Madiakher Schaf. Die Haut des Schafes wurde getrocknet und wird wohl für die Herstellung von Trommeln, Schuhe oder Gebetsteppiche verwendet werden.

©Verein "Nio boku gis gis - on vois dans la même direction"